Niede­rgang eines Unternehmens - 19. Juni 2019

Die Zeichen der Zeit erkennen

Veränderungen im Kunden­ver­halten müssen sowohl der Unter­neh­mer wie auch der ihn be­glei­ten­de steuer­liche Berater stets im Fokus haben. Ein negatives Beispiel aus der Textil­branche zeigt, dass der­je­nige, der nicht recht­zeitig gegen­steuert, zwangs­läufig untergeht.

Früher waren unsere Bedürfnisse vor allem auf die Versorgung mit Nahrung, Kleidung und Behausung ausgerichtet. Heute hingegen sind zusätzliche Ansprüche relevant. Neben der reinen (Grund-)Versorgung möchten wir Qualität, Image und Erlebnis spüren. Unsere Beschaffungsvorgänge sollen nicht einfach für eine Versorgung stehen, sondern uns ein gutes Gefühl vermitteln.

Verändertes Konsumverhalten

Beim Erwerb eines neuen Kleidungsstücks etwa ist nicht nur dessen Eignung für den vorgesehenen Zweck in Form von Größe und Passform maßgeblich, sondern auch die Optik, die Marke und das damit verbundene Image; ferner die Frage nach der Ökologie der verwendeten Materialen bis hin zu der Frage, ­unter welchen Bedingungen die Produktion (Stichwort Kinderarbeit) erfolgt ist, der Preis und – ganz wichtig – über welchen Beschaffungsweg man das gute Stück erlangt hat. War es ein Onlinekauf, ein Kauf im regulären, stationären Handel oder bei einem Outlet? Hat es den normalen Preis gekostet oder hat man eine Rabattaktion genutzt? Wie wurde der Einkauf erlebt? War der Verkäufer freundlich und kompetent? Und war die Atmosphäre im Geschäft angenehm oder das Einkaufserlebnis in der Wahrnehmung eher getrübt? Wir sehen, es gibt eine Menge an Fragen und Aspekten, die in heutiger Zeit einen normalen Einkauf tangieren. Diese neuen Denkansätze beeinflussen zumindest den Kaufvorgang. Nicht wenige Quellen sprechen mittlerweile von der bestimmenden Entscheidungsgröße, wo der Kunde seinen Umsatz platziert. Es sind also genau diese Informationen, die wichtig für den Unternehmer von heute sind. Warum verhält sich mein Kunde gerade so? Wie kann ich diese Entscheidung in meinem Sinne beeinflussen? Aber nicht nur der Händler in der Textilbranche muss sich Gedanken über das Nutzungsverhalten seiner Kunden machen, sondern wir alle, die wir für andere Menschen tätig sind und auf deren Wahrnehmung und Wohlwollen unserer Marke gegenüber wir angewiesen sind. Ausgangspunkt dieser Entwicklung ist – wenig verwunderlich – die Digitalisierung.

Informationen beschaffen

Informationen werden nicht zu Unrecht als das neue Rohöl des 21. Jahrhunderts bezeichnet.

Wer hier die Weichen richtig stellt, wird mit Blick auf die Zukunft erfolgreich agieren, wer hingegen die Trends der Zeit nicht sieht, dem droht genau das Gegenteil davon. Informationen werden nicht zu Unrecht als das neue Rohöl des 21. Jahrhunderts bezeichnet. Uns allen ist bewusst, dass die Steuerung unseres Kaufverhaltens von enormem Interesse für den Unternehmer von heute ist. Die Wirkung der Beeinflussung der Umsatzströme – von Lenkung zu sprechen, wäre übertrieben – ist zu einem Expansionspfad für die einen und zu einem Über­lebenskampf für die anderen geworden. Am Anfang stehen also die Daten. Diese müssen gut sein. Gute Daten lassen sich erfolgreich auswerten. Taugliche Auswertungen inspirieren zu neuen Strategieansätzen. Neue Strategieansätze schaffen Bedürfnisse. Diese Bedürfnisse müssen im Geschäft des Unternehmers mit den Wünschen der Kunden korrelieren. Ein daraus erfolgter Verkauf schafft wiederum neue Daten.

Die Entwicklung verschlafen

Kehren wir noch einmal zu unserem Unternehmer aus der Textilbranche zurück. Es handelt sich um ein mittelständisches Unternehmen mit 20 Verkaufsfilialen. Ein Unternehmen, das von der formalen Größe her in der Lage sein sollte, über ausreichend Ressourcen zu verfügen, um seine Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Ressourcen wären vorwiegend Mitarbeiteranzahl und -fähigkeit sowie Kapital und der Wille, Veränderungsprozesse als gewünscht anzusehen. In der Realität sieht es jedoch anders aus. Die Filialen sind EDV-technisch nicht up to date. Die reinen Formalien wie Bestellvorgänge und die finanzamtskonforme Abbildung der Zahlungsvorgänge sowie des Lagerbestandswesens können erfüllt werden. Nun wäre es aber wünschenswert, mehr über die Vorgänge in den einzelnen Filialen und über deren Kunden zu erfahren. Doch für die Beschaffung der Daten bestand bereits ein ungleicher Ausgangspunkt im Vergleich zu einem sehr großen, international tätigen und mit enormen liquiden Mitteln ausgestatteten Internethändler. Dieser kennt von seinen Kunden nicht nur deren Namen und die Adressen, sondern weiß auch, wofür sich diese Kunden interessieren, was sie konkret und tatsächlich kaufen, bis hin zu der Erkenntnis, um wie viel Uhr an welchen Wochentagen in welchen Preisklassen ein Kauf getätigt wird. Dieser Mitbewerber hat einen klaren Vorsprung bei der Erhebung relevanter Nutzerdaten. Er braucht sie nicht mehr zu erheben, er hat sie schon bis hin zur Historie bezüglich der Bezahlung. Unser Textilhändler mit seinen 20 Filialen hingegen hatte die Zeit verschlafen.

Verdrängungswettbewerb

Es heute mit einer veralteten EDV zu versuchen und die Daten von deren Warte aus im stationären Handel zu erheben, ist mühsam und langwierig. Unter Umständen werden die Rahmendaten des Einzelhandels, wie diese derzeit in Deutschland bestehen, unserem Textilhändler auch gar nicht mehr genug Zeit lassen, noch Anschluss zu finden. Der Verdrängungswettbewerb ist brutal. Die Tatsache, dass mittlerweile bereits vier von zehn Kleidungsstücken in Deutschland im Rahmen von Rabattaktionen verkauft werden, macht deutlich, dass eine Rohertragskalkulation von vornherein mit noch niedrigeren Margen rechnen muss, um letztendlich die Ware nicht als Restbestand im Lager liegen zu haben. Und die Tatsache, dass Kleidungsstücke, die über die ortsansässigen Discounter verkauft werden, allesamt zu den Posten zählen, die als zum regulären Preis an die Kundschaft verkauft gelten, macht diese Erkenntnis nicht besser.

Guter Rat war teuer

Was also hätte unser Textilhändler besser machen können? Vor vielen Jahren viel Geld in eine bessere EDV investieren? Versierte Mitarbeiter in diesem Segment einstellen und diesen viel Freiraum geben, damit sie neue Ideen kreieren? Oder für ausreichend liquide Mittel sorgen, um diese EDV, die zusätzlichen Mitarbeiter und die daraus entstehenden Aktionen zu finanzieren? Vielleicht. Sicher ist, dass auch dieser Weg unsicher gewesen wäre, von der Beschaffbarkeit dieser Ressourcen ganz zu schweigen. Denn die reine Investition stellt keine Erfolgsgarantie dar. Vielmehr ist es die Lehre vom Kapitän, der mit seiner Mannschaft umsichtig im Nebel mit kurzen Impulsen am Steuerrad beweglich bleibt und bei Bedarf durch Kommandos an die hellwache Crew schnell Segel setzen oder reffen lassen kann, bei Bedarf Ballast abwirft oder auch rechtzeitig allen ein „Alle Mann nach Steuerbord!“ oder „Alle Mann nach Backbord!“ zuruft – und, falls nötig, sogar ein „Alle Mann von Bord und rette sich, wer kann!“.

Unflexible Strukturen

In unserem Fall musste der Textilhändler Insolvenz anmelden. Bei der späteren Analyse trat klar hervor, dass eine individuelle Filialsteuerung nicht gegeben war. Die Umsatzerlöse pro Filiale sowie der Materialeinsatz waren zwar bekannt, aber eine filialbezogene Vollkostenrechnung lag nicht vor. Und selbst wenn es diese gegeben hätte, wäre eine Trennung von Non-Profit-Filialen kurzfristig nicht möglich gewesen, denn die Mietverträge bestanden alle mit der zentralen Unternehmensleitung. Eine isolierte, vorzeitige Auflösung wäre nur mit Zustimmung des Vermieters möglich gewesen. Eine eigenständige GmbH-Gliederung pro Filiale wäre zwar aufwendig gewesen, hätte aber schon weitaus früher, also vor der Insolvenz, eine Selektion ermöglicht. Bis hin zu dem Umstand, dass der Vermieter angesichts einer drohenden Insolvenz der Einzelfilial-GmbH gegebenenfalls zu konstruktiven Gesprächen die Miete betreffend (Stichwort: Umsatzpacht) bereit gewesen wäre. Bei derartigen Konstellationen könnte es sich anbieten, neue Filialen zunächst einmal in der Rechtsform einer eigenen GmbH zu führen und – wenn klar ist, ob diese nachhaltig wirtschaften kann – nach etwa zwei bis drei Jahren zu überlegen, diese Filiale entweder aufzugeben oder mit der Hauptfirma zu verschmelzen. Sozusagen wäre das dann eine Art Probezeit für den neuen Standort, bevor er voll dazugehört. Diese Probezeit könnte man natürlich auch länger als für den Zeitraum von drei Jahren ansetzen.

Rückgang von Umsatz und Kundenfrequenz

In unserem Fall konnte darüber hinaus ermittelt werden, dass die durchschnittliche Umsatzgröße pro Verkauf in den vergangenen Jahren kontinuierlich zurückgegangen war. Dies in Verbindung mit einer geringer werdenden Kundenfrequenz hätte schon Jahre vor der Insolvenz die Dringlichkeit, gegenzusteuern, erkennen lassen müssen. Stattdessen aber wurden neue, weitere Filialen eröffnet. Sei es im Glauben, immer neue Filialen würden die negative Entwicklung kompensieren, sei es, weil man an bessere Zeiten glaubte, in denen auch schwache Filialen wieder erfolgreich sein würden. Womöglich hätte die Stärkung der schwachen Filialen mit sehr gutem Verkaufspersonal noch eine nachhaltige Wende bewirken können. Vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels aber ist diese Option nicht mehr als eine Spekulation und scheidet eigentlich als praktikabler Lösungsansatz aus.

Fehlende ABC-Analyse

Auch führte unser Textilhändler zu keiner Zeit eine ABC-Analyse durch, wohl deshalb, weil anfangs die wenigsten Filialen der Kategorie B oder C zuzurechnen waren. Zu solchen wurden sie erst mit der Zeit – und dies leider unbemerkt oder weil man, als es so weit war, nicht den Willen hatte, einen Veränderungspro-zess anzugehen. Eine taugliche und emotionsfreie Analyse in früherer Zeit hätte hier wohl dazu geführt, die reine Expansionsstrategie zu überdenken und die schwachen Filialen auszusortieren – allen Unannehmlichkeiten zum Trotz (Stichwort: Vermieterveto oder Sozialplanabfindungen).

Insolvenz

Der Versuch, mit immer neuen Filialen das Konzept zu retten, führte aber zu einer Beschleunigung des Untergangs, da nicht an den eigentlichen Ursachen, nämlich der Rohertragsschwäche sowie der Kostenentwicklung, angesetzt wurde. Als es zur Insolvenz kam, war jedenfalls das Marktumfeld so weit ausgedünnt, dass für einen Filialhändler unserer Struktur und Größenordnung zu wenig regionale Kaufinteressenten vorhanden waren. Viel von einem nicht guten Konzept ergibt in der Summe eben noch keinen Erfolg. Und so erlebte der Textilhändler in unserem Fall einen signifikanten Einschlag. Sowohl das Unternehmen als auch die privaten Liquiditätsreserven gingen verloren. Das Ergebnis war der schlechteste anzunehmende Verlauf, der – rechtzeitige kompetente Beratung vorausgesetzt – hätte verhindert werden können. Denn bei einem früheren Verkauf des ganzen Unternehmens oder rechtzeitigem Insolvenzantrag wäre zumindest das private Vermögen verschont geblieben.

Zum Autor

Markus Wohlleber

Steuerberater, Dipl.-Betriebs­wirt (FH), Bank­kauf­mann, Fach­be­rater für San­ie­rung und In­sol­venz­ver­wal­tung (DStV) in der Steuer­be­ra­tungs­kanzlei Wohl­leber in Nürn­berg, Haß­furt und Frankfurt/M.

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