Geschäfts­modell-Innovation - 6. Dezember 2018

Krise umschiffen

Unter­nehmen, die in eine Krise ge­raten, können neue Wege gehen, die In­sol­venz zu vermeiden. Noch besser sind die Er­folgs­aus­sichten, wenn die not­wen­dige Ini­tia­tive sehr früh ein­ge­läutet wird.

Wenige Tage nach Einleitung eines vorläufigen Insolvenzverfahrens in Eigenverwaltung geschah Ungewöhnliches im Betrieb von Schaidt Innovations, so eine Pressemeldung vom 6. Juli 2016. Was war passiert? Obwohl es für die Produkte der Schaidt Innovations keine Zukunft gab, wurde das Unter­nehmen nicht liquidiert und abgewickelt. Eine breite Koalition aus Sachwalter, Gläu­bi­ger­aus­schuss, Betriebsrat und IG Metall sowie der Geschäftsführung des Unternehmens hatte ent­schie­den, einen Prozess zur Entwicklung innovativer Geschäfts­mo­delle zu starten.

Ausgangslage

Die Firma Becker, ein Pionier in der Entwicklung der ersten modernen Autoradios nach dem Zweiten Weltkrieg, produzierte bis Mitte der 1990er Jahre in Süddeutschland Autoradios, die zu den besten der Welt gehörten. Die amerikanische Harman International übernahm dann die Standorte, um Multimediakonsolen und Navigationsgeräte zu produzieren. Höchste Qualität und Präzision ermöglichten, dass sich die Produktion dieser Geräte in Deutschland – trotz zunehmender Wett­be­werbs­fähig­keit von Niedriglohnländern – noch halten konnte. Im Jahr 2010 zog sich dann Harman aus diesem Markt zurück und verkaufte den Standort im pfälzischen Schaidt. Ab diesem Zeitpunkt wurde die Fertigung hochwertiger Infotainment-Systeme unter dem neuen Namen Schaidt Innovations fortgesetzt. Mit knapp 500 gut ­ausgebildeten Mitarbeitern wurden weiterhin Platinen mit elektronischen Bauteilen bestückt. Die Spitze der deutschen Automobilindustrie ließ hier produzieren. Zuletzt die Firma Porsche, die sich die besten Infotainment-Systeme für ihre Nobelkarossen fertigen ließ. Doch dann entschied Porsche, seine neuen Modelle mit einem 12-Zoll-Touchscreen auszustatten, über den alle Funktionen des bisherigen Infotainment-Systems sowie weitere Fahrzeugfunktionen gesteuert werden können. So wurden die bisherigen Produkte von Schaidt Innovations durch Apps ersetzt und damit zu Opfern einer rasant fortschreitenden Digitalisierung. So weit eine Entwicklung, wie sie der Strukturwandel schon öfter mit sich gebracht hat. Dramatisch für die direkt Betroffenen, aber nicht neu. „Wir brauchen für Schaidt eine nachhaltige ­Zukunft, das allein zählt für die IG Metall“, forderte damals Silke Nötzel, die sich schon länger um die Rettung des Standorts bemühte. Zusammen mit Herrn Dr. von der Fecht aus der gleichnamigen Beratungsfirma in Düsseldorf und Peter E. Rasenberger, Co-Gründer des Schweizer Investmenthauses RASENBERGER TOSCHEK, wurde dann die Idee für ein innovatives Vorgehen entwickelt. Das Ziel: neue Geschäftsperspektiven für den Standort, Nutzung vorhandener Anlagen und eine Zukunft für die Mitarbeiter. „Das ist die be­deu­tend­ste Neuentwicklung bei Schaidt, seitdem ich das Unternehmen leiten darf“, so Ralf Beuse, Ge­schäfts­führer von Schaidt Innovations, über die damalige Entwicklung.

Das magische Dreieck

Um diesen neuen, innovativen Ansatz zu verstehen, muss man zunächst definieren, was ein Ge­schäfts­modell ist. Der St. Gallen Business Model NavigatorTM beschreibt ein Ge­schäfts­modell mit dem magischen Dreieck (siehe Abbildung).

Im Mittelpunkt steht die WHO-Dimension: die Kunden und deren Bedürfnisse. Die WHAT-Dimension beschreibt, was den Kunden angeboten wird und welchen Nutzen die Produkte und Services stiften. Die HOW-Dimension erklärt, wie die Leistung erbracht wird, also welche Aktivitäten notwendig sind, welche Schlüsselpartner mitwirken und welche Technologien genutzt werden. Die WHY-Dimension gibt an, warum das Geschäft profitabel ist, womit Umsatz erzielt wird und wie die Ertragsmechanik aussieht, die profitables Wachstum ermöglicht. Zusammenfassend lässt sich sagen, ein Ge­schäfts­modell beschreibt, wie ein Unternehmen für seine Kunden Nutzen stiftet und zugleich profitable Umsätze erzielt. Von einer Geschäftsmodell-Innovation ­sprechen wird, wenn mehrere Di­men­sionen gleich­zeitig verändert werden, sodass eine stimmige und für den Markt ­attraktive, neuartige Konfiguration des Geschäfts entsteht. Sie erlaubt es Unternehmen, sich zu dif­fe­ren­zie­ren, ohne sich primär über Preise oder Features vergleichen zu lassen. So hat Nestlé etwa mit Nespresso eine Ge­schäfts­modell-In­no­va­tion geschaffen, bei der die Kunden für Kaffee in Kapseln einen Kilopreis von bis zu 100 Euro bezahlen, ohne dass sie dieser Preis wirklich interessiert.

Der St. Gallen Business Model NavigatorTM

Als Vorgehen zur systematischen Entwicklung von Geschäftsmodell-Innovationen hat sich der St. Gallen Business Model NavigatorTM etabliert, der auch bei Schaidt zum Einsatz kam. Er wurde von der Universität St. Gallen und der BMI Lab AG entwickelt und in vielen Branchen erfolgreich angewendet. Ein Forschungsprojekt analysierte mehr als 200 erfolgreiche Geschäftsinnovationen in unter­schied­lichen Branchen. Dabei stellte sich heraus, dass mehr als 90 Prozent der unter­such­ten Unternehmen Geschäftslogiken verwendeten, die bereits von anderen Unternehmen, in der Regel aus anderen Branchen und in anderer Zusammensetzung, genutzt wurden. So beschreibt etwa „Razor and Blade“, benannt nach Gillette, folgende Geschäftslogik: Ein Basisprodukt, der Rasierer, wird günstig verkauft. Mit dem Verbrauchsmaterial, den Klingen, wird der Profit erzielt. Diese Logik nutzte beispielsweise HP bei Druckern oder Nestlé mit Nespresso. Die 55 wich­tigs­ten Muster wurden beschrieben. Durch Anwendung dieser Muster kann eine Vielzahl innovativer Ideen generiert werden. Die attraktivsten Ideen werden anschließend ausgewählt, detailliert und do­ku­men­tiert. In schnellen Zyklen werden erste Versionen der Ideen mit potenziellen Kunden verprobt, anhand der Rückmeldungen angepasst und so lange verfeinert, bis eine Idee konkret und reif genug für den Markt ist.

Umsetzung in der Praxis

Ein wesentlicher Faktor war ein gemischtes Team von internen Mitarbeitern und externen Ideengebern.

Zurück zu Schaidt: Georg von der Ropp vom universitätsnahen BMI Lab in St. Gallen und Dr. Christoph H. Wecht von der BGW Management Advisory Group, St. Gallen, führten durch den Prozess zur Entwicklung innovativer Geschäfts­mo­del­le. Ein wesentlicher Faktor war ein gemischtes Team von internen Mitarbeitern und externen Ideengebern. Maßgeblich für die Auswahl der internen Mitarbeiter war Offenheit für Neues, die Bereitschaft, sich auf unbekanntes Terrain zu begeben, und eine breite Abdeckung unterschiedlicher Funktionen, Erfahrungen und Sichtweisen. „Wir wollen ganz neue Wege erproben und dabei auf vorhandenen Fähigkeiten aufbauen“, sagte Andreas Katz, der bei Schaidt im Qua­li­täts­ma­nage­ment arbeitete. Wie hoch die Erwartungen waren, belegt die Aussage von Dr. Biner Bähr, dem für das Verfahren zuständigen, vorläufigen Sachwalter von der Kanzlei White & Case: „Im nächsten Monat sollen die ersten Ideen internationalen Investoren bereits vorgestellt werden, und zu Weihnachten will ich einen neuen Eigentümer für Schaidt haben, der das Unternehmen mit den Mitarbeitern in die Zukunft führen wird.“ In der ersten Phase wurden die Kernkompetenzen erhoben und die vorhandenen Fertigungsanlagen analysiert. Aus dem Abgleich mit relevanten Trends, neuen Kundenbedürfnissen und weiteren Ver­än­de­rungs­treibern ­wurden ein Dutzend Opportunitätsfelder identifiziert, die nach Markt­po­ten­zial, Um­set­zungs­ge­schwin­dig­keit, Kompetenzfit und Arbeitsplatzwirkung priorisiert wurden. Für die interessantesten Op­por­tu­ni­täts­felder wurde in einem intensiven Workshop eine dreistellige Anzahl von Geschäftsideen generiert. Durch ein Be­wer­tungs­ver­fahren wurden die vier attraktivsten Geschäftsideen ausgewählt, die dann durch jeweils eigene Teams weiter detailliert und konkretisiert wurden. Eine der Ideen sah zum Beispiel vor, dass Elektronik-Start-up-Unternehmen bei der Industrialisierung ihrer Produkte unterstützt werden. Den Start-up-Unternehmen wird dabei angeboten, basierend auf der jeweiligen Produktidee Prototypen zu bauen, Kleinserien zu fertigen und die Großse­rien­fer­ti­gung vorzubereiten, die dann typischerweise in Fernost durchgeführt wird. Im weiteren Verlauf prüften die Teams durch Interviews und Recherche erste kritische Voraussetzungen, wie etwa Kundeninteresse, Kooperationswille oder Zah­lungs­be­reit­schaft. Allen Ideen war gemeinsam, dass sie auf Zukunftstrends ausgerichtet waren und dass sie die Stärken und vorhandenen Mittel bei Schaidt zur Geltung brachten. Mit ­diesen vier Ideen wurden in einem parallel laufenden Inves­to­ren­prozess gezielt Unternehmen angesprochen, die ein strategisches Interesse an den neuen Geschäfts­mo­dellen haben könnten. Eine weitere Geschäftsidee, die Fertigung von Ladeinfrastruktur für Elektro­fahr­zeuge, passte zur Ausrichtung der Webasto-Gruppe. Die Präsentation der Idee im Rahmen eines Investorentermins übernahm das Team, das diese Idee erarbeitet hatte. Nach einer intensiven Due-Diligence-Phase übernahmen Webasto zum 1. Januar 2017 Schaidt Innovations. Seitdem wird das Unternehmen als Webasto Mechatronics GmbH fortgeführt.

Handlungsbedarf erkennen

Damit ein solcher Innovationsprozess rechtzeitig initiiert wird, muss zum einen die Notwendigkeit zum Handeln erkannt werden, zum anderen müssen der Ansatz und das Vorgehen im Hinblick auf die Geschäftsmodell-Innovationen ­bekannt sein. Handlungsbedarf besteht, wenn die Profitabilität des bestehenden Geschäfts ernsthaft gefährdet ist und auch durch Kostenreduktion nicht nachhaltig gesichert werden kann. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn neue Technologien zu generell neuen Lö­sungs­an­sätzen führen, so wie etwa die Di­gi­ta­li­sie­rung die Musikindustrie in mehreren Wellen grundlegend verändert hat. In den letzten zwei Jahrzehnten des 20. Jahr­hun­derts wurden Schallplatten durch CDs abgelöst, in den 2000er Jahren CDs durch MP3-Downloads und in den letzten Jahren hat sich das On-Demand-Streaming etabliert. Aber auch andere Treiber von Veränderungen wie die Globalisierung und die Nutzung von Niedriglohn-Fertigungs­stand­orten oder Regulierungen, wie etwa das Verbot von Glühbirnen beziehungsweise – ganz aktuell – von Halogenleuchtmitteln, können den Anlass bieten, das bestehende Geschäftsmodell grundsätzlich zu überdenken. Die Herausforderung besteht darin, dass gravierende Entwicklungen oft allmählich und zunächst nur graduell in Erscheinung treten. Wer hätte es im Autoland Deutschland vor wenigen Jahren für möglich gehalten, dass Ver­bren­nungs­motoren in Privatfahrzeugen zu Aus­lauf­mo­del­len werden? Elektromobilität ist nach dem Markt­ein­tritt von Tesla plötzlich nicht mehr Vision, sondern Realität. In der Folge werden Auto­mobilzulieferer von Komponenten des kon­ven­tio­nel­len Antriebsstrangs ihre Existenzberechtigung auf Basis des bestehenden Geschäftsmodells verlieren. Geschäftsführern und Managern, die tagtäglich in der operativen Ver­ant­wor­tung stehen, erschwert die oft schleichende Einführung von disruptiven Tech­no­lo­gien, den Hand­lungs­bedarf zu erkennen.

Die Rolle des steuerlichen Beraters

Steuerberater, die sich mit Vorgehen zur sys­te­ma­tischen ­Entwicklung von Geschäftsmodell-Innovationen wie dem ­St. ­Gallen Business Model NavigatorTM vertraut gemacht haben, können hier den notwendigen Impuls geben, um einen konkreten Innovationsprozess zu starten. Das Verständnis der Bedeutung von Geschäftsmodellen ist aber nicht nur zur Abrundung des Beratungsangebots, auch für Steuerberatungs- und Wirt­schafts­prü­fungs­ge­sell­schaften, hilfreich.

Fazit

Der Mythos, dass erfolgreiche Geschäftsinnovationen ausschließlich durch geniale Unternehmer oder glückliche Zufälle entstehen können, ist falsch. Das Beispiel der Schaidt Innovations zeigt, dass die Wahl des Vorgehens und die Beteiligung der richtigen Leute entscheidend ist.

Zum Autor

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Georg von der Ropp

Geschäftsführer des BMI Lab, eines Spin-offs der Universität St. Gallen. Er unterstützt Unternehmen bei der Entwicklung und Implementierung von innovativen Geschäftsmodellen.

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