Ökosysteme - 20. November 2018

So wird Digitalisierung lebendig

Von Kunden, Pro­duk­ti­vi­tät und Wett­be­werb war bei Unter­neh­men schon immer die Rede. Nun ist noch ein neuer Begriff hin­zu­ge­kom­men, der für die digitale Trans­for­ma­tion von stra­te­gischer Be­deu­tung ist: das Öko­system.

Die moderne Informationstechnologie hat in den vergangenen Jahren alle Bereiche des Alltagslebens durchdrungen. Mobile und vernetzte digitale Endgeräte mit leistungsfähigen Prozessoren sind heute im Beruf genauso wie im Privatleben ständig präsent. Daraus ergeben sich vielfältige Mög­lich­keiten, neue Wert­schöp­fungs­pro­zesse zu gestalten. Firmen wie Google, Facebook oder Airbnb demonstrieren auf eindrucksvolle Weise, wie erfolgreich datengetriebene Geschäftsmodelle sein können. Viele alt­her­ge­brachte Spielregeln der Betriebswirtschaft werden dabei auf den Kopf gestellt: Produktion und Verbreitung materieller Güter spielen nur noch eine untergeordnete Rolle, An­lage­ver­mö­gen werden kaum noch angehäuft und haben eine völlig andere Struktur, als dies bisher üblich war. Man kann in diesem Zusammenhang mit Fug und Recht von einer Revolution sprechen – nicht nur deshalb, weil die neue Branche zum Wachs­tums­motor der Wirtschaft geworden ist, sondern auch, weil Innovationen in digitalisierten Umgebungen von Grund auf neu gedacht werden müssen.

Explosion der Gestaltungsmöglichkeiten

Die ubiquitäre Verbreitung digitaler Technologie machte es einfach, große Datenmengen zu sammeln, zu verbreiten und auf verschiedenste Weise zur Steuerung von Prozessen einzusetzen. Das führt zu einer enormen Ausdehnung des Gestaltungsraums für Innovation und gleichzeitig auch zu einer kontinuierlichen Weiterentwicklung der Ergebnisse, die dabei entstehen. In diesem Sinne durchlaufen wir als Gesellschaft nicht einfach nur eine vor­über­gehende Phase digitaler Transformation. Wir müssen uns vielmehr daran gewöhnen, dass Umbrüche, wie wir sie heute erleben, in Zukunft zum Normalfall werden. Es steht zu erwarten, dass wir die wirt­schaft­liche Entwicklung nicht mehr als Geschichte von Übergängen zwischen verschiedenen statischen Zuständen erzählen können. Dateninhalte, Netz­werk­strukturen und Verarbeitungsprozesse lassen sich so einfach verändern, dass die vielfältigen Ge­stal­tungs­op­tionen ständig und immer wieder in neue Richtungen wahrgenommen werden können. Innovation wird damit zu einem niemals endenden und aus verschiedensten Richtungen getriebenen Entwicklungsprozess. Und genau dies ist der Grund, warum der Begriff des Ökosystems immer mehr Aufmerksamkeit erhält.

Beeinträchtigung der Wertschöpfungsprozesse

Ökosysteme folgen einer anderen Logik als die Massenabfertigung eines klassischen Industriebetriebs.

In der Natur gehören Ökosysteme zu den komplexesten Gebilden, die die Welt zu bieten hat. Sie bestehen aus sehr unterschiedlichen Elementen, die in vielfältiger Weise aufeinander einwirken. Gleichzeitig entwickeln sich Ökosysteme als Ganzes und in einzelnen Teilen dynamisch weiter, wodurch sich die Gestalt und das Verhältnis der einzelnen Elemente zueinander beständig verändern. Um Ökosysteme zu verstehen, reicht es deshalb nicht aus, ihre Funktionsweisen zu einem bestimmten Zeitpunkt zu untersuchen. Man muss ebenso herausfinden, welche Kräfte die Systemstrukturen verändern und wohin sie die Entwicklung lenken. Denn Ökosysteme folgen einer anderen Logik als die Massen­fer­ti­gung eines klassischen Industriebetriebs, in dem dieselben Vorgänge immer wieder aufs Neue ablaufen und genau determiniert sind. Diese Determination, die meistens schon durch die eingesetzten Maschinen erzwungen wird, erleichtert die Steuerung des Betriebs ungemein. Sie führt dazu, dass alle Vorgänge genau geplant und durch kontinuierliche, zielgerichtete Verbesserungsprozesse schrittweise optimiert werden können. Gleichzeitig werden weitergehende Veränderungen zu einer Stress­si­tua­tion des Betriebs, weil sie außer­ge­wöhn­liche Eingriffe erfordern, die den Wertschöpfungsprozess stark beinträchtigen.

Informationstechnologie im Wandel

Bis heute orientiert sich das Management eng am Modell des klassischen Industriebetriebs. Gerade dort, wo Digitalisierung weit vorangeschritten ist, wird es jedoch zunehmend schwer, feste Orien­tie­rungs­punkte für Planung und Optimierung zu finden. Das liegt zum einen daran, wie In­for­ma­tions­tech­no­lo­gie eingesetzt wird, zum anderen aber auch am Design der Technologie selbst.
Die Informationstechnologie stimmt die Wert­schöp­fungs­pro­zesse vieler einzelner Institutionen an verschiedenen Orten miteinander ab. Damit ver­viel­facht sich die Zahl der Umwelteinflüsse, die auf die betriebliche Tätigkeit einwirken.
Gleichzeitig hat sich die Wettbewerbssituation verschärft, weil das Kundenverhalten besser analysiert und prognostiziert werden kann. Dies erhöht den Anpassungsdruck an ver­än­der­te Markt­be­din­gun­gen.
Auch die Informationstechnologie selbst steht unter hohem Anpassungsdruck, was zu häufigen Updates und Release-Wechseln seitens der Hersteller führt, mit denen Funk­tions­ver­än­de­rungen einhergehen.
Obendrein folgt die Informationstechnologie heute meist einer Plattformlogik, die darauf angewiesen ist, dass die Nutzer weitere Parameter hinzufügen. Kein digitales Gerät ist in dieser Hinsicht komplett gleich. Diese Variabilität muss im Betrieb abgefangen werden.

Vernetzte Innovationstätigkeit

Mit dem Begriff des Ökosystems verbindet sich ein Ansatz im Management, der solche Entwicklungen nicht als Störfaktoren im Industriebetrieb ansieht, sondern sie vielmehr als Möglichkeit für dauerhafte Inno­va­tions­tä­tig­keit versteht. Dort, wo beständiger Wandel der Normalzustand ist, fällt die Einführung von Neuerungen nämlich besonders leicht. Das liegt vor allem daran, dass alle Beteiligten bereits aktiv in Anpassungsvorgänge eingebunden sind und deshalb flexibler auf Veränderungen an anderer Stelle im System eingehen können – genauso, wie sich auch die Elemente natürlicher Ökosysteme von Generation zu Generation weiterentwickeln und dabei an variierende Umwelt­be­din­gun­gen anpassen. Um sicherzustellen, dass dieser Veränderungsprozess tatsächlich zu Innovationen führt, ist es allerdings notwendig, den Austausch zwischen den Beteiligten anzuleiten und zu unterstützen. Aus der In­no­va­tions­for­schung sind verschiedene Szenarien bekannt, die solche Vorgänge unterstützen. Ein Beispiel sind offene Labore, die Ingenieure während der Entwicklung neuer technischer Lösungen mit Techniknutzern und weiteren In­te­res­sen­gruppen in Kontakt bringen. Dabei werden alle Beteiligten immer wieder mit anderen Meinungen und Erwartungen konfrontiert, die sie dazu zwingen, ihre eigenen Vorstellungen zu überdenken und sich besser aufeinander einzustellen. Plattformen im Internet können ähnliche Prozesse in Bewegung setzen, insbesondere dann, wenn sie ihren Nutzern umfangreiche Möglichkeiten bieten, einen Beitrag zum jeweiligen Thema zu leisten. Im einfachsten Fall geschieht das durch Kommentarfelder oder die Einbindung von hochgeladenen Bildern und Videos. Komplexere Plattformen bieten oft auch Design­um­ge­bun­gen an, in denen Nutzer selbstständig zur Entwicklung neuer Produkte beitragen können.

Organisation und Struktur eines Ökosystems

Die Bildung von Ökosystemen wird durch viele Faktoren gefördert. Auf der einen Seite kann räumliche Nähe eine große Rolle spielen. Firmen, die in derselben Region angesiedelt sind, haben einen gemeinsamen kulturellen Hintergrund und nutzen dieselbe Infrastruktur. Sie beziehen ihre Arbeitskräfte aus demselben Bildungssystem und profitieren in gleicher Weise von Rechtssicherheit und sozialem Frieden. Damit sind sie Teil eines gemeinsamen Ökosystems mit dem gemeinsamen Interesse, es nachhaltig zu entwickeln. Auf der anderen Seite können besondere Produkte oder Dienstleistungen ein Bezugspunkt für Ökosysteme sein. Räumliche Nähe spielt dabei eine geringere Rolle als Geschäftsbeziehungen und der Wissensfluss, der die Beteiligten verbindet. Firmen wie Apple sind besonders bekannt für ihre Fähigkeit, das In­no­va­tions­po­ten­zial ihres Ökosystems zu erschließen. Dazu nutzen sie verschiedenste Plattformen, die den Austausch zwischen Hardware- und Software-Entwicklern, Nutzern, Forschungseinrichtungen und Infrastruktureinrichtungen rund um ihre Produkte unterstützen. Auch wenn einzelne Firmen oft eine zentrale Rolle in einem Ökosystem spielen, lassen sich die Strukturen der Systeme kaum mit denen von Unternehmen vergleichen. Ökosysteme folgen einem topologischen Organisationsmodell, das durch Offenheit charakterisiert wird. So kann man Zentrum und Peripherie eines Ökosystems unterscheiden, aber nur selten eine klare Grenze zwischen zwei Ökosystemen ziehen. Ganz im Gegenteil: Ökosysteme überlagern sich normalerweise auf verschiedenen Ebenen, sodass alle Beteiligten gleichzeitig Teil verschiedener Systeme sind. Das macht eine formale Analyse von Ökosystemen zu einer besonders anspruchsvollen Aufgabe.

Handlungsempfehlungen

Für das Management von Ökosystemen lassen sich dennoch viele Handlungsempfehlungen formulieren, die ihren Ursprung in den wissenschaftlichen Arbeiten zur Ressourcen- und Systemtheorie, aber auch neueren Ansätzen aus dem Servicemanagement haben. Die Gestalt von Ökosystemen lässt sich durch Res­sour­cen­ana­ly­sen ermitteln. Solche Analysen tragen zu einem besseren Verständnis der Voraus­set­zun­gen bei, auf denen ein erfolgreicher Ge­schäfts­betrieb beruht. Unternehmen können damit besser verstehen lernen, auf welche Institutionen sie bei ihrer Tätigkeit angewiesen sind und wie bedrohlich der Ausfall dieser Institutionen ist. Ähnliche Analysen kann man auch für die eigenen Geschäftspartner anstellen. Um zu erkennen, ob sich ein Ökosystem nachhaltig entwickelt oder vor dem Zerfall steht, bieten sich kybernetische Überlegungen an, mit denen sich Gleich­ge­wichts­zu­stände des Systems charakterisieren lassen. Über die Menge und Intensität der Abweichung vom Gleichgewicht lassen sich Aussagen über die Robustheit und Resilienz des Ökosystems ableiten. Je mehr Daten über ein Ökosystem zugänglich sind, desto einfacher lassen sich solche Analysen betreiben und gegebenenfalls auch durch Com­pu­ter­si­mu­la­tionen ergänzen. Das führt uns zurück zum Thema Digitalisierung.

Fazit und Ausblick

Ökosysteme eröffnen eine neue Perspektive auf wirtschaftliches Handeln, die im Zuge der Di­gi­ta­li­sie­rung von Wirtschaft und Gesellschaft weiter an Bedeutung gewinnen wird. Mit Big Data ergeben sich ganz neue Möglichkeiten zum Management von Ökosystemen, die den Unternehmen erlauben werden, dynamische Wechselbeziehungen und kontinuierliche Entwicklungsprozesse besser zu verstehen und sich dem dauerhaften Trans­for­ma­tions­prozess zu öffnen, der in Zukunft zur wichtigsten Quelle von Innovation werden wird.

Zum Autor

Dr. Dr. Albrecht Fritzsche

Innovationsforscher am Institut für Wirtschaftsinformatik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg im Themengebiet Digitalisierung und Wertschöpfung

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