Jugend verstehen, Jugend gewinnen - 21. Juli 2015

Unbegrenzte Wählbarkeiten

Jeder Arbeitgeber möchte den besten Nachwuchs für sich gewinnen. Die Zeiten sind allerdings vorbei, in denen man sich die Rosinen aus dem Bewerberkuchen herauspicken konnte.

Arbeitgeber stehen heute im Wettbewerb und müssen – anders als noch vor wenigen Jahren – den Bewerber davon überzeugen, dass das eigene Unternehmen die besten Perspektiven bietet. Aus einem vom Anbieter dominierten Markt ist ein Markt geworden, in dem die Nachfrager, sprich die Jugendlichen, mehr und mehr am längeren ­Hebel sitzen. Das ist eine vollkommen neue Situation, denn plötzlich müssen die Chefs und Personaler auf die Wünsche der Kandidaten ­hören, anstatt einfach Bedingungen zu diktieren. Genau darum geht es: Was wollen die Jungen und Mädchen eigentlich? Um zu verstehen, ­warum Jugendliche heute so sind, wie sie sind, muss man sich die ­Bedingungen vor Augen führen, innerhalb derer Jugend heute stattfindet. Zwei Stich­wor­te sollen hier genügen, um diesen Rahmen zu ­beschreiben: unbegrenzte Möglichkeiten und Le­bens­op­ti­mie­r­ung.

Eine Jugend mit unbegrenzten Möglichkeiten

Was mit unbegrenzten Möglichkeiten gemeint ist, kann sicher jeder nachvollziehen. Noch nie hatte eine Generation so viele Medien zur Verfügung, so viele Produkte – und so viele Berufe zur Auswahl. Doch was zunächst vielleicht nach paradiesischen Zuständen klingen mag, ist in Wahrheit das genaue Gegenteil. Es liegt nun einmal nicht in der Natur des Menschen, mit Vielfalt umgehen zu können. Die menschlichste Reaktion ist das Aufschieben, die Vermeidung der Auseinandersetzung mit dem Thema. Es ist kein Wunder, dass erst fleißig zwischen Strom­an­bie­tern oder Versicherungen gewechselt wird, seit es die entsprechenden Vergleichsportale im Internet gibt. Vorher war der Tarifdschungel nicht zu durchblicken, und man hat lieber zu viel gezahlt, als sich dem Stress eines sorgfältigen Auswahlprozesses auszusetzen. Genauso ergeht es den Jugendlichen bei der Berufswahl.
Bei Hunderten von Berufsausbildungen zuzüglich aller weiteren Bildungswege und Fachschulen gibt es absolut keine Transparenz. Den Jugendlichen fehlen das Wissen und die Erfahrung, Angebote zu bewerten, die Vielfalt der einzubeziehenden Variablen überfordert sie, und die Eltern sind dabei auch keine große Hilfe, da sie neue Berufe oder allgemeine Entwicklungen im Arbeitsmarkt oft ebenso wenig einzuschätzen vermögen wie ihre Kinder. Dass die Sprösslinge keine Lust haben, sich mit dem Thema Berufswahl auseinanderzusetzen, muss man also verstehen – sie verhalten sich einfach nur menschlich. Um es auf den Punkt zu bringen: Es ist für Jugendliche heute unmöglich, den richtigen Beruf zu finden.
Das war es früher aber auch. Es wäre naiv zu glauben, dass die Berufswahl früher qualitativ besser war, sie war nur einfacher, weil es weniger Auswahl gab. Ein wesentlicher Punkt ist aber, dass das früher anscheinend nicht so gestört hat wie heute – und damit sind wir beim zweiten Punkt: der Lebensoptimierung.

Ist das die perfekte Welle?

Das Hinterherhecheln nach der besten Lösung, die sprichwörtliche Suche nach der perfekten Welle ist vielleicht sogar der wichtigere der beiden Aspekte. Wer nur wenige Möglichkeiten hat, wird sich relativ leicht für die beste entscheiden und mit dieser Wahl auch zufrieden sein – selbst wenn diese nicht das Optimum darstellt. Auch das ist nur menschlich. Wir können uns nämlich sehr gut arrangieren und an Situationen anpassen.
Heute werden Jugendliche jedoch auch nach einer Entscheidung ständig mit unendlichen Mög­lich­kei­ten konfrontiert. Man will ein Video auf YouTube ansehen, aber die Vorschläge an der Seite klingen viel verlockender als das, was man gerade sieht. Man geht auf eine Party, aber vielleicht ist die Traumfrau ja auf der Party um die Ecke, von der man gerade über WhatsApp erfahren hat? Die Jeans passt, doch der nächste Online-Shop könnte ja noch besser aufgestellt sein …
Es ist ja nicht so, dass Jugendliche sich nicht entscheiden könnten und würden. Der wesentliche Unterschied zu früheren Generationen besteht darin, mit welcher Konsequenz diese Ent­schei­dun­gen dann auch durchgezogen werden. Im Bestreben, die perfekte Welle zu surfen, muss man andere Wellen passieren lassen, darunter auch solche, die vielleicht gar nicht so schlecht gewesen wären. Diese Strategie funktioniert, wenn die perfekte Welle rechtzeitig vor Einsetzen der Ebbe herangerauscht kommt, aber das weiß man natürlich nicht.

Berufswahl gleicht dem Kauf einer Jeans

Lebensoptimierung heißt in der Theorie, dass die Jugendlichen versuchen, aus der Vielfalt der Möglichkeiten die perfekte Wahl zu treffen. In der Praxis bedeutet es, dass die Jugendlichen einmal getroffene Entscheidungen ständig hinterfragen. Früher gab es die Ehe in guten wie in schlechten Tagen, bis dass der Tod sie scheidet. Heute sucht man LAP (Lebensabschnittspartner). In einer unserer Befragungen aus dem Jahr 2014 stellten sich 92 Prozent der 13- bis 19-Jährigen ihr späteres Leben zusammen mit einem Partner vor, heiraten wollten nur 57 Prozent. Dieser Befund lässt sich nahtlos auf die Berufswahl übertragen. Früher war der ergriffene Beruf eine Entscheidung fürs Leben, wie der Kauf einer Immobilie. Heute ist die Berufswahl eher wie der Kauf einer Jeans. Passt sie nicht, wird sie eben umgetauscht. An dieser Stelle prallen Welten auf­ein­an­der, die diametral unterschiedlich sind: die des Arbeitgebers, der natürlich volles Commitment erwartet, so wie man es (vielleicht sogar als Inhaber) selbst lebt, und die vieler Jugendlicher, die den Beruf eher als die momentan beste unter den gerade verfügbaren Optionen ansehen. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Man darf den Jugendlichen diese Einstellung nicht vorwerfen, denn sie können nichts dafür. Die Unternehmen sowie Kanzleien, die Nachwuchs suchen, können zwar auch nichts dafür, aber sie sind gefordert, sich darauf einzustellen.

Selbstoptimierung – nicht ohne gesunden Egoismus

Das Thema Selbstoptimierung ist nämlich ein durchaus zweischneidiges. Fragt man Jugendliche danach, was ihnen bei ihrem späteren Beruf wichtig ist, dann wollen 84 Prozent der 13- bis 19-Jährigen viel Geld verdienen, 81 Prozent wollen abwechslungsreiche Aufgaben, 71 Prozent wollen kreativ arbeiten und sich entfalten, 70 Prozent wollen viel Eigenverantwortung. Das klingt nach einem engagierten, ehrgeizigen, also perfekten Berufsnachwuchs, de facto sind die Jugendlichen aber nicht bereit, dafür auch jedes Opfer zu bringen. 74 Prozent geben dem Privatleben den Vorzug vor dem Beruf, und 71 Prozent möchten lieber einen stressfreien Beruf mit geregelten Arbeitszeiten, selbst wenn das weniger Geld bedeutet. Der Beruf ist ein Mittel zum Zweck, kein Selbstzweck.
Der Wunsch nach Selbstoptimierung reicht nur bis zu dem Punkt, an dem die Integration in das persönliche Umfeld gefährdet werden könnte. Wichtiger als die finanzielle ist die soziale Si­cher­heit, also die Gewissheit, dass der Beruf nicht auf Kosten des Privatlebens geht. Vom Arbeitgeber wird keine gemütliche Hängematte erwartet, aber ein Umfeld, das andere Lebensbereiche nicht torpediert. Man darf heute durchaus Leistungsbereitschaft und Engagement erwarten, aber keine starke Identifikation mit dem Arbeitgeber und keine Opferbereitschaft. Die Strategie der Selbst­op­ti­mie­r­ung erfordert gesunden Egoismus, und den legen die Jugendlichen auch im Beruf an den Tag. Auf diese Weise wird der Job dann noch viel stärker zu einer Wahl mit begrenztem Zeithorizont.
Einerseits wollen die Jugendlichen also das Optimum für sich herausholen, andererseits scheuen sie das Risiko. 84 Prozent der 13- bis 19-Jährigen ist es wichtig, bei den Eltern auszuziehen und sprichwörtlich ein eigenes Leben zu führen, aber genauso viele wollen auch engen Kontakt mit den Eltern und der Familie halten – als soziales Sicherheitsnetz. Auch den Wunsch nach fi­nanz­iel­ler Unabhängigkeit (90 Prozent der 13- bis 19-Jährigen) beziehungsweise der eigenen Wohnung (76 Prozent) muss man in diesem Kontext sehen: In Zeiten von Hartz-IV-TV wird ihnen jeden Tag vor Augen geführt, wie sozialer Abstieg aussieht.

Was können Arbeitgeber tun?

Jugendliche sind durchaus bereit, Kompromisse einzugehen, wenn ihnen das Sicherheit verspricht, doch Sicherheit meint eben nur zum Teil die finanzielle Seite. Es sollte deutlich geworden sein, dass monetäre Anreize heute zwar noch wichtig sind, den Jugendlichen andere, softe Faktoren aber mindestens genauso wichtig sind. Nicht zu vernachlässigen ist dabei das menschliche Umfeld am Arbeitsplatz. Einen netten Chef wünschen sich 80 Prozent der 13- bis 19-Jährigen, nette Kollegen sogar 86 Prozent. Auch dies illustriert die Notwendigkeit für den Arbeitgeber, die Befindlichkeiten der Jugendlichen zumindest zu respektieren und auch das eigene An­spruchs­ni­veau anzupassen. Starre Hierarchien entsprechen nicht der Wertewelt der neuen Generation, die Bereitschaft zu lernen umschließt keine Unterwürfigkeit. Für Jugendliche leitet sich Autorität nicht aus der Arbeitsplatzbeschreibung ab, sondern aus dem Können des Einzelnen.
Selbstoptimierung heißt für Jugendliche im Beruf aber auch, sich weiterentwickeln zu können. Der Wunsch nach Entfaltungsmöglichkeiten im Arbeitsalltag wurde bereits erwähnt, aber ebenso wichtig ist es, Karrierewege aufzuzeigen. 72 Prozent der Jugendlichen wollen sich ständig wei­ter­qua­li­fi­zie­ren können, 81 Prozent wünschen sich gute Aufstiegsmöglichkeiten. Sie haben verstanden, dass auch die Arbeitswelt im Fluss ist und dass Stagnation heute de facto Rückschritt bedeutet. Arbeitgeber müssen deswegen signalisieren, dass ein Einstieg in einen Beruf kein lebenslanges Schicksal mehr bedeutet, sondern den Startpunkt für eine Karriere, die viele Mö­g­lich­kei­ten offenlässt.

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Alle statistischen Daten ent­stam­men einer von ­­icon­­kids & youth durchgeführten Re­prä­sen­ta­tiv­­be­fra­gung von 754 Ju­gend­li­chen zwi­schen 13 und 19 Jahren vom März 2014.

Zum Autor

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Axel Dammler

geschäftsführender Gesellschafter von iconkids & youth, dem größten deutschen Spezialinstitut für Kinder- und Jugendforschung. Er arbeitet seit 1992 mit jungen Zielgruppen und verfolgt seitdem auch die Trends im Berufsmarkt.

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