Arbeiten in Europa - 22. November 2013

Welches Recht gilt?

Alle Bürger der EU haben grundsätzlich das Recht, in jedem Mitgliedstaat zu arbeiten. Immer mehr Unternehmen nutzen auch die Vorteile dieser grenzenlosen Freiheit. Doch die Arbeitsgesetze in den Mitgliedstaaten sind alles andere als gleich.

Durch die in der EU geltende Niederlassungsfreiheit sind der Arbeit innerhalb der Gemeinschaft generell keine Grenzen gesetzt. Doch die Arbeitsbedingungen in den EU-Staaten sind, anders als der Grundsatz der Niederlassungsfreiheit selbst, nicht einheitlich geregelt. Mit Ausnahme einzelner Bereiche, die sich einheitlich nach den Vorgaben von EU-Verordnungen richten, hat jeder Mitgliedstaat sein eigenes Arbeitsrecht. Daher stellt sich bei jedem grenzüberschreitenden Einsatz von Arbeitnehmern die gleiche Frage: Welches Recht ist auf das Arbeitsverhältnis anwendbar?
Bekommt etwa ein französischer Arbeitnehmer, der in Berlin für eine Gesellschaft mit Sitz in London tätig ist, Überstunden bezahlt? Und welche Kündigungsfristen gelten für die Reiseleiterin, die Rundreisen in Spanien und Italien für ein deutsches Unternehmen betreut?

Die Rom-I-Verordnung

Auf den ersten Blick erscheint die Antwort, zumindest für Arbeitsverhältnisse innerhalb der EU, einfach. Artikel 8 Abs. 1 der für alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union geltenden Rom-I-VO [Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.06.2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht] sieht vor, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Arbeitsvertrag vereinbaren können, welches Arbeitsrecht für den Vertrag anwendbar ist. Die Rechtswahl darf allerdings nicht dazu führen, dass zwingende arbeitsrechtliche Vorschriften umgangen werden. Sicherzustellen ist, dass den Arbeitnehmern durch die Rechtswahl nicht der Schutz entzogen wird, der ihnen durch gesetzliche Regelungen zusteht und von denen nicht oder nur zu ihrem Vorteil durch Vereinbarung abgewichen werden darf. Diese Vorschriften betreffen häufig Aspekte, die den Arbeitgeber am härtesten treffen können. So sieht das Arbeitsrecht einiger europäischer Staaten (etwa Frankreich, Belgien) teilweise zwingende Abfindungsregelungen, aber unter anderem auch zwingende Regelungen zur Überstundenvergütungen vor.

Recht des gewöhnlichen Arbeitsorts

Wird mit dem Arbeitnehmer eine Vereinbarung getroffen, nach welchem Recht sich die Arbeitsbedingungen richten sollen, bleibt es ihm dennoch nicht erspart, zu prüfen, welches Recht ohne diese Vereinbarung anwendbar wäre (objektiv anwendbares Recht). Nur so kann er einschätzen, ob andere zwingende Arbeitnehmerrechte zu beachten sind und welche Risiken sich daraus für ihn ergeben können. Wonach sich das objektiv anwendbare Recht bestimmt, ist ebenfalls in der Rom-I-VO geregelt. Danach unterliegt der Arbeitsvertrag grundsätzlich dem Recht des gewöhnlichen Arbeitsorts (Art. 8 Abs. 2 Rom-I-VO). Nur wenn ein solcher nicht bestimmbar ist, wird an das Recht der einstellenden Niederlassung angeknüpft (Art. 8 Abs. 3 Rom-I-VO).

Oft erbringen die Arbeit­nehmer ihre Tätig­keit nicht an ein und dem­selben Ort, sondern ­arbeiten an regel­mäßig wechselnden Orten.

Nach dem Wortlaut der Ver­ordnung ist der gewöhnliche Arbeits­ort der Staat, in dem oder von dem aus der Arbeit­nehmer tätig wird. In der Regel unproble­matisch ist die Bestimmung immer in den Fällen, in denen der Arbeit­nehmer seine Tätigkeit aus­schließ­lich an ein und demselben Ort erbringt. Wird der Arbeit­nehmer beispiels­weise in Paris, wo er auch wohnt, für eine Gesell­schaft mit Sitz in Deutschland tätig, ist der gewöhnliche Arbeitsort in Paris. So einfach ist die Ab­grenzung aber nicht immer. Häufig erbringen die Arbeit­nehmer ihre Tätigkeit nicht nur an ein und demselben Ort, sondern arbeiten an regel­mäßig wechselnden Orten (wie Flug­be­gleiter, Piloten, Monteure, Fernfahrer oder Außen­dienst­mit­arbeiter).

Die einstellende Niederlassung

In diesen Fällen stellt sich zunächst die Frage, ob überhaupt ein gewöhnlicher Arbeitsort existiert, an den für die Bestimmung des anwendbaren Rechts angeknüpft werden kann, oder ob es sich um einen Fall handelt, bei dem das Recht des Staates gilt, in dem sich die einstellende Niederlassung befindet. Ein solcher Schluss darf jedoch nicht zu schnell gezogen werden.
Es handelt sich hierbei um eine sogenannte Auffangregelung. Sie kommt immer nur dann zum Zuge, wenn die Bestimmung des anwendbaren Rechts nach allen anderen Vorschriften unmöglich ist. Insbesondere darf nicht übersehen werden, dass die Regelung in Art. 8 Abs. 2 Rom-I-VO den gewöhnlichen Arbeitsort eben nicht nur in dem Staat sieht, in dem, sondern auch von dem aus der Arbeitnehmer gewöhnlich tätig wird.

Die EuGH-Entscheidung Koelzsch

So sah es auch der Europäische Gerichtshof im Urteil vom 15.03.2011 im Fall Koelzsch (C-29/10) [Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht (NZA) 2011, S. 625]. In der Entscheidung ging es um die Klage eines in Deutschland lebenden Lkw-Fahrers, der bei einer luxemburgischen Gesellschaft angestellt war. Der Arbeitsvertrag wurde in Luxemburg abgeschlossen und luxemburgisches Recht vereinbart. Der Arbeitnehmer war Mitglied des Betriebsrats. Nachdem der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis kündigte, berief sich der Arbeitnehmer darauf, dass die Kündigung unwirksam sei. Er stützte sich auf die nach deutschem Recht geltenden Vorschriften in § 15 Kündigungsschutzgesetz, wonach Betriebsratsmitgliedern während ihrer Amtszeit nicht ordentlich gekündigt werden darf. Im luxemburgischen Recht gibt es eine solche Regelung nicht. Der Arbeitnehmer vertrat die Ansicht, dass trotz der Vereinbarung im Arbeitsvertrag die für ihn günstigere, zwingende deutsche Vorschrift anwendbar sei, weil das objektiv anwendbare Recht das deutsche Arbeitsrecht sei. Der Arbeitgeber bestritt dies. Er ging davon aus, dass es aufgrund der Besonderheiten des Falls keinen gewöhnlichen Arbeitsort gebe und somit das Recht der einstellenden Niederlassung in Luxemburg anwendbar sei. Der Arbeitgeber hatte in Deutschland weder einen Gesellschaftssitz noch Geschäftsräume. Der Arbeitnehmer erbrachte seine Tätigkeit auch nicht überwiegend in Deutschland. Seine Aufgabe war es, Pflanzen von Dänemark in verschiedene Orte Deutschlands zu transportieren, aber auch in andere europäische Länder. Er nutzte dafür allerdings Lastwagen, deren Abstellplätze sich in Deutschland befanden.
Der EuGH gab dem Arbeitnehmer Recht. Das Gericht stellte klar, dass die Vorschriften zur Bestimmung des gewöhnlichen Arbeitsorts weit auszulegen sind. Auf den Ort der Niederlassung soll nur ausnahmsweise zurückgegriffen werden können. Gibt es keinen Mittelpunkt der Tätigkeit, also keinen Ort, an dem der größte Teil der Arbeit ausgeübt wird, muss festgestellt werden, von welchem Staat aus der Arbeitnehmer regelmäßig seine Transportfahrten durchführte, Weisungen erhielt sowie seine Arbeit organisierte und wo sich die Arbeitsmittel befanden.

Auffangregelung

Ergo darf man auch in Fällen, in denen Arbeitnehmer ihre Arbeit regulär in verschiedenen Staaten verrichten, nicht vorschnell annehmen, es sei das Recht der einstellenden Niederlassung anwendbar. Vielmehr muss zunächst anhand sämtlicher Umstände genau geprüft werden, ob nicht doch ein Ort bestimmbar ist, der als gewöhnlicher Arbeitsort zugrunde gelegt werden kann. In der Praxis bleiben daher relativ wenige Fälle, bei denen wirklich kein gewöhnlicher Arbeitsort bestimmt werden kann und auf den Ort der einstellenden Niederlassung zurückgegriffen werden muss. Dies wird nur noch in den Fällen relevant sein, in denen zum einen die Tätigkeit gewöhnlich in mehreren Staaten erbracht wird und ein zudem einheitliches Zentrum (wie etwa die tägliche Rückkehr an den Wohnort) fehlt. Betreffen kann das Arbeitnehmer auf Bohrinseln, Schiffspersonal, Reiseleiter aber auch Lkw-Fahrer und Monteure, die nicht von einem bestimmten Ort aus immer wieder ihre Tätigkeiten verrichten.

Die EuGH-Entscheidung Voogsgeerd

In derartigen Fällen stellt sich die Frage, wo der Ort der einstellenden Niederlassung liegt. Unklar war lange Zeit, ob die einstellende Niederlassung bei internationalen Arbeitsverträgen die im Arbeitsvertrag genannte Niederlassung ist oder ob zusätzlich auch ein gewisses Maß an Eingliederung in den Niederlassungbetrieb erforderlich ist. Diese Frage hat der EuGH mit Urteil vom 15. Dezember 2011 im Fall Voogsgeerd (C-384/10) geklärt: Abzustellen ist auf die vertragsschließende Niederlassung (NZA 2011, S. 227). Der Entscheidung des EuGH lag ein Fall zugrunde, in dem der Arbeitnehmer einen Arbeitsvertrag mit einer in Luxemburg ansässigen Gesellschaft schloss. Unterzeichnet wurde der Arbeitsvertrag aber am Sitz einer anderen Konzerngesellschaft in Belgien. Im Arbeitsvertrag wurde luxemburgisches Recht vereinbart. Der Arbeitnehmer arbeitete als Maschinist auf verschiedenen Schiffen in der Nordsee. Nachdem er eine Kündigung erhielt, klagte er auf Zahlung einer Kündigungsentschädigung nach belgischem Recht. Er vertrat die Ansicht, dass auf seinen Arbeitsvertrag belgisches Recht anzuwenden war.

Die vertragsschließende Niederlassung

Daher ist zutreffend nur auf die Niederlassung abzustellen, die rechtlich Vertragspartner geworden ist.

Die Entscheidung des EuGH, dass es auf die vertragsschließende Niederlassung ankomme und nicht auf die Frage, ob der Arbeitnehmer in die einstellende Niederlassung auch eingegliedert sei, ist nachvollziehbar: Letzteres würde voraussetzen, dass es einen Ort gibt, an dem die Arbeit organisiert wird, von dem aus der Arbeitnehmer zentral Weisungen erhält und an den er gegebenenfalls auch immer wieder zurückkehrt. Im Ergebnis liefe das aber auf dieselben Voraussetzungen wie für die Bestimmung des gewöhnlichen Arbeitsorts hinaus. Es wäre letztlich widersinnig, wenn die Voraussetzungen für die Bestimmung des Orts der einstellenden Niederlassung – auf die es nur ankommt, wenn ein gewöhnlicher Arbeitsort nicht bestimmt werden kann – letztendlich die gleichen wären wie die für die Bestimmung des gewöhnlichen Arbeitsorts. Daher ist zutreffend nur auf die Niederlassung abzustellen, die rechtlich Vertragspartner geworden ist.

Gefahr des Missbrauchs

Insoweit missbräuchlich wäre es, eine sogenannte Anwerbeniederlassung in einem Staat zwischenzuschalten, dessen Rechtsvorschriften für den Arbeitgeber günstig sind, ohne dass der Arbeitnehmer je dort tätig wird oder sein Arbeitsverhältnis sonst einen Bezug zu diesem Staat hätte. In vielen Fällen wird dies bereits dadurch verhindert, dass derartige Anwerbebüros nicht die Voraussetzungen für eine Niederlassung erfüllen. Eine solche wird noch nicht dadurch begründet, dass ein Vertreter oder Repräsentant ohne ständiges Büro lediglich Einstellungen für den Arbeitgeber vornimmt. Maßgeblich ist vielmehr, ob durch das entsprechende Büro tatsächlich eine organisatorische Betreuung des Arbeitnehmers erfolgt (Magnus in Staudinger, Internationales Vertragsrecht 2011, Art. 8 Rom-I-VO Rnr. 122; Schlachter in Erfurter Kommentar, 12. Auflage, Rom-I-VO, Art. 8 Rnr. 16. ).
Liegen Anhaltspunkte vor, dass eine Gesellschaft zwar im Arbeitsvertrag als Arbeitgeber genannt wird, tatsächlich aber nicht als solcher fungiert, sondern auf Rechnung einer anderen Gesellschaft handelt, ist ausnahmsweise auf eine andere Niederlassung abzustellen und nicht auf diejenige, die formal als Arbeitgeber auftritt. Das hat der EuGH klargestellt. Letztlich kann bei objektiven Anhaltspunkten für den Verdacht einer Umgehung auch auf die sogenannte Ausweichklausel in Art. 8 Rom-I-VO zurückgegriffen werden, wonach als letzter Ausweg das Recht des Staats anwendbar ist, zu dem die engste Verbindung besteht (EuGH vom 15.12.2011, C-384/10, NZA 2012, S. 227; Lüttringhaus, EuZW 2012, S. 139).

Zusammenfassung

Bei grenzüberschreitenden Arbeitsverhältnissen innerhalb der EU können die Vertragsparteien das anwendbare Recht im Arbeitsvertrag vereinbaren. Bestehen aber nach dem eigentlich objektiv anwendbaren Recht zwingende Arbeitnehmerschutzvorschriften, von denen nicht zulasten des Arbeitnehmers durch Vereinbarung abgewichen werden kann, gelten diese auch weiterhin. Deshalb sollte man vorsorglich immer bestimmen, welches Recht für das Arbeitsverhältnis objektiv gilt. Dabei kommt es in erster Linie darauf an, wo der gewöhnliche Arbeitsort ist. Nur wenn dieser nicht bestimmbar ist, kann ausnahmsweise auf die einstellende Niederlassung abgestellt werden – in der Regel die Niederlassung, mit der man den Vertrag abgeschlossen hat.

Zur Autorin

Kati Kunze

Rechtsanwältin und Fachanwältin für Arbeitsrecht; ­Partnerin bei Steinkühler – Kanzlei für Arbeits- und Gesellschaftsrecht – Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB in Berlin

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